
Anfänge der Nervenheilkunde
Nicht nur die Kenntnisse über die Ursachen waren unzureichend und zumeist falsch, auch die Behandlungen waren schlecht und oft schädlich. "Irre" und "Narren" lebten bis weit in das Mittelalter in ihren Sippen und Familien. Die heute gelegentlich idealisierte Familienfürsorge konnte sich nur auf die einfachste körperliche Versorgung und Beaufsichtigung beschränken. Kam es zu schwerwiegendem Fehlverhalten, musste die Familie haften. Fesselungen und Wegsperren waren in der Regel die noch geringste Folge. Oft wurden die Kranken auch in die Wildnis (z. B. in Germanien) ausgesetzt oder weggeschickt ("Narrenschiffe"); dies war gleichbedeutend mit dem baldigen und oft elenden Tod.
Fürsorge und Behandlungen unter religiösen Krankheitsvorstellungen (z. B. Exorzismus) in Klöstern waren der erste Entwicklungsschritt in Richtung auf eine Sorge für den Anderen schlechthin. Sie wurde nach der Zeit der Aufklärung z. T. in säkularisierten Klöstern staatlich weitergeführt und um die vorletzte Jahrhundertwende in eigenen Anstalten nach Art eines MUNDUS, einer vollständigen, aber zumeist abgeschlossenen Welt für sich, weiterentwickelt.
Erst die Beobachtung der so versammelten, großen Anzahl von Patienten (ca. ab 1800) machte es wissenschaftlich möglich, umschriebene Krankheitsbilder zu erfassen. Dabei stellte sich heraus, dass viele gleiche oder ähnliche Symptome ganz andere Ursachen hatten. Erst in dieser Zeit mögliche anatomische Untersuchungen der Gehirne Kranker nach dem Tod erklärte einige Krankheiten durch Tumore, Schrumpfungen oder Entzündungen; dies waren typische Krankheitsursachen wie bei anderen Organen auch.
Die rein körperlich fassbaren Veränderungen des Organes Gehirn werden von der sich entwickelnden Neurologie behandelt. Sie konnte Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts mit der Malaria-Fiebertherapie gegen die Hirnentzündung durch den Lues-Erreger einen ersten durchschlagenden Erfolg erringen. Es folgten die erfolgreiche Epilepsiebehandlung und andere. In jüngster Zeit wurden eine Reihe gut wirksamer Behandlungsmethoden auch bei anderen Erkrankungen gefunden, die lange als unbehandelbar galten.
Mit hypnotischen Behandlungen konnte man schon Mitte des 19. Jahrhunderts bei anderen Erkrankungen die Symptome beseitigen, die sich somit als rein seelischen Ursprungs erwiesen. Diese rein psychischen Veränderungen wurden nach der Hypnose von der Psychotherapie (etwa ab 1896 zunächst über 50 Jahre fast ausschließlich die Psychoanalyse Siegmund Freuds) weiter untersucht. Die Psychoanalyse hatte bereits um die Jahrhundertwende ein Behandlungskonzept entwickelt, das zu dem Besten auch noch heute gehört. Kostengründe (und die Diskriminierung der Psychoanalyse in Deutschland) erlaubten früher freilich nur wenigen reichen (und mutigen) Patienten, sich der Methode zu bedienen. Es ging nicht nur um die Behandlung von seelischen Störungen, sondern auch um innere Freiheit und Emanzipation von der eigenen, oft einengenden Lebensgeschichte: Seelisch gesund durch größere innere Freiheit.
Für einen Rest der Erkrankungen, bei denen sich weder körperliche Veränderungen des Gehirns fanden, noch Symptome durch Hypnose beseitigt werden konnten, wurden lange unbekannte = "endogene" Gründe angenommen. Heute wissen wir, dass bei ihnen überwiegend Stoffwechselstörungen analog der z. B. Zuckerkrankheit vorliegen. Diese Patienten (z. B. Schizophrene, Zyklothyme, endogen Depressive u. a.) blieben lange unbehandelbar. Sie bildeten neben intellektuell Behinderten und Epileptikern überwiegend das Klientel psychiatrischer Kliniken. Zugleich waren dies die Patienten, die am ehesten zu lästigen, manchmal auch gefährlichen Störern der sozialen Ordnung und deshalb damals wie heute gern auch abgeschoben wurden und werden. Die Schlagwörter Abschieben versus Beschützen, Verschließen versus Therapieren, Enthospitalisieren versus schutzlos Preisgeben und andere beherrschen eine polemische Debatte seit jeher.
Auch den Vertretern stationärer Psychiatrie war von Anfang an bekannt, dass die Nervenheilkliniken nicht nur von Vorteil waren, sondern selber zu ungünstigen Verläufen der Erkrankungen (z. B. Hospitalismus) führen können, wenn nämlich wenige und unzulänglich ausgebildete Ärzte und Pfleger in unzureichend ausgestatteten Kliniken ein vernachlässigendes, unterdrückendes und einengendes Milieu erzeugen. Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts führte Pinel in Frankreich deshalb erste arbeitstherapeutische Behandlungsmaßnahmen und Schulungen des Personals durch. Dieser sozialtherapeutisch zu nennende Ansatz wurde vor allem in England systematisch weitergeführt und auch in Deutschland unter Begriffen wie "koloniale" Nervenklinik übernommen.
In diesen Anstalten konnten Patienten z. B. ausgedehnte Ländereien bewirtschaften und so einen Neubeginn einleiten. Der angenehme Nebeneffekt bestand darin, dass sie zur Kostensenkung der Behandlung beitrugen. Ende des 19. Jahrhunderts wurde Enthospitalisierung durch die sog. Familienpflege als Übergangsstadium vom stationären in den ambulanten Bereich betrieben.
Kausale medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten bestanden bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nicht, nur beruhigende Mittel (z. B. Haschisch, Opium, Chloralhydrat etc.) konnten verabreicht werden. Daneben gab es Fesselungen und "Erschütterungs- und Erschöpfungstherapien" (Drehbänke, Tauchstühle etc.), mit deren Hilfe der Kranke so geschwächt wurde, dass er nicht mehr "Unruhe" erzeugen konnte.
So stellte die Sozial- und Arbeitstherapie lange Zeit für diese psychisch Kranken das einzige wirkliche Behandlungsverfahren dar; es spielt noch heute eine wichtige Rolle. Die damaligen Medikamente stellten nur ruhig und die Erschütterungstherapien waren aus heutiger Sicht nichts als Quälerei. Viele der Vorurteile gegen die Psychiatrie stammen aus dieser Zeit und waren damals sehr berechtigt.